„Wir wollen wirkliche Wahlverwandtschaft leben!“ Interview mit Frau Helga Marion Hoyme, Leiterin von Großeltern e.V.

Vielleicht ist jemandem schon einmal beim Vorbeigehen am „Salzmann-Haus“ in der Andreasstraße 16 das Schild aufgefallen: „Großelterndienst Erfurt e.V.“ ist da zu lesen. Auf der Internetseite des Vereins heißt es kurz und bündig: „Auf ehrenamtlicher Basis vermitteln wir junge Familien und Alleinerziehende mit Kindern an junggebliebene Senioren, die Freude daran haben, Kinder durch regelmäßige Treffen auf ihrem Lebensweg zu begleiten.“ Das Büro des Vereins hat seit März 2019, also nun seit knapp drei Jahren, ein Zuhause in den Räumlichkeiten der Andreasgemeinde im Erdgeschoß des Pfarrhauses gefunden. Als erstes frage ich Frau Marion Helga Hoyme, die Sprecherin des Vorstand-Teams von Großeltern e.V. deshalb, wie es dazu kam und was die Nachbarschaft der evangelischen Andreasgemeinde für den Verein, aber auch für sie persönlich bedeutet.

Helga M. Hoyme:  Wir haben seit Bestehen des Vereins d.h. seit Juni 2013 nach geeigneten Räumlichkeiten gesucht, wo wir unser Anliegen vertreten können. Nach einem Hinweis aus der Andreas-Gemeinde und der umfangreichen Renovation des Raumes im Salzmannhaus, die wir mit Spenden finanzieren konnten, feierten wir am 9. März 2019 dort unseren Einstand. Wir sind sehr glücklich, dass wir durch diese Räume die Möglichkeit haben, auf den Gesprächsbedarf der Senioren einzugehen, für die das Ehrenamt oft einen wichtigen neuen Lebensabschnitt darstellt. Im Salzmann-Haus mit diesem Ehrenamt tätig zu sein, berührt mich aber auch deshalb sehr, weil Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811), der Pädagoge und Pfarrer, nach dem das Haus benannt ist, das Wohl der Kinder immer in den Vordergrund stellte. Gemeindemitglieder arbeiten mit, wie z.B. Frau Spangenberg im Vorstand unseres Teams. Wir haben sowohl Eltern als auch Wunschgroßeltern aus der Gemeinde im Verein. Mitglieder der Andreasgemeinde richten sich häufig ebenso mit interessierten Anfragen an uns. Darüber hinaus sind wir durch diese feste Adresse in der Innenstadt für alle nun deutlicher wahrnehmbar als vorher. Die herzliche und angenehme Begleitung von Frau Pfarrerin Schlemmer und auch die Unterstützung der Pfarrgemeinde St. Andreas tragen zusätzlich zum Gelingen unseres Ehrenamtes bei.

Katharina Waldner:  Was sind denn die für Sie wichtigsten Anliegen des Vereins?

H.M.H.: „Großelterndienst“ wird leider sehr oft falsch verstanden. Gerade junge Eltern haben häufig die Vorstellung, dass man bei uns sozusagen Menschen „leihen“ könnte, die temporär die Familie begleiten. Unser Ansatz ist aber ein ganz anderer: Wir wollen wirkliche Wahlverwandtschaft leben. Viele aus unserem Verein haben auch persönlich die Erfahrung gemacht, was Wahlverwandtschafen in ihrem Leben bedeuten und sehr häufig kommen ja auch Menschen, die es als deutliches Defizit empfinden, keinen Familienverband mehr zu haben. Wir versuchen dann mit sehr viel Sorgfalt zu verstehen, wo die Bedürfnisse genau liegen und diese dann auch in einen sicheren, verantwortungsvollen Rahmen zu fügen (Führungszeugnis, Versicherungen, Datenschutz-Beachtung, etc.). Danach treffen wir in einer Teamberatung eine Vorauswahl, welche Familien- und Seniorenwünsche Deckungungsgleichheit aufweisen. Die endgültige Konstellation der Wahlverwandtschaft wird unter aktiver Beteiligung der Wunschgroßeltern in spe ausgewählt. Diese empathiebetonte Vorgehensweise hat sich von Anfang an bewährt.

K.W.: Und wie sieht das von der Seite der jungen Familien her aus?

H.M.H. Wir verfahren mit beiden Seiten gleichermaßen. Die Anwärter werden gebeten, einen Kontaktbogen auszufüllen, so dass wir vorab einige Informationen bekommen, an die sich dann aber immer noch ein intensives Kennenlern-Gespräch anschließt. Initial müssen wir auch beurteilen, ob von Seiten des Vereins diesen Ansprüchen und Erwartungen entsprochen werden kann, denn für uns steht einfach das gute Miteinander der Generationen im Vordergrund, wovon die Betreuung der Kinder einen Aspekt bedeutet. Hier müssen wir sehen, ob das Zeitkontingent der Großeltern dafür ausreichen würde und ob zugleich auch andere wichtige Parameter deckungsgleich sind, so dass ein harmonisches Miteinander möglich ist.

K.W. Ihren Verein gibt es nun schon seit 2013, also 9 Jahre. Was hat sich in dieser Zeit verändert?

H.M.H.:  Schon seit 2006 begleitet mich das Thema Großelterndienst, zuerst in anderer organisatorischer Konstellation, bevor wir schließlich feststellten, dass der rein ehrenamtliche Verein die beste Form ist, um den Bedürfnissen beider Seiten gerecht zu werden. Großelterndienst bedeutet auch, die Menschen privat zu begleiten und - häufig auch bei besonderen Bedürfnissen - Ansprechpartner zu sein. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Räumlichkeiten haben, die wir zeitlich flexibel nutzen können, z.B. auch in den Abendstunden, die eine bestimmte Intimität und damit auch Datenschutz ermöglichen. Zeitnahe Termine, um die wir uns besonders im Falle von akuten Problemen bemühen, sind damit unkompliziert und individuell möglich. Dies war in der städtischen Einrichtung, die wir zuvor nutzten, so nicht mehr umzusetzen. Nach 15 Jahren bemerke zumindest ich sehr deutlich, dass sich die Senioren in ihren Wertvorstellungen gewandelt haben. Da ist die Kurzlebigkeit der Zeit, und wir erleben Wunschgroßeltern, die sich in ihren Zielen und in ihrer Freizeitgestaltung deutlich verändert haben. Es sind nun vorwiegend jüngere Senioren, die auf uns zukommen, sehr aktive Menschen, die bei ihrer Ehrenamtssuche die Frage der Sinnhaftigkeit und auch der Wertevermittlung, die ihnen am Herzen liegt, stellen und vieles gerne an die nächste Generation weitergeben möchten. Insofern: Kinderbetreuung ja -, aber eigentlich mehr Begleitung bei der Entwicklung des Kindes und zugleich auch Begleitung der jungen Familien, um Lebenserfahrung weitergeben zu können, dabei auch der Wunsch, dies mit Kompetenz und mit entsprechender Begleitung durch unser Team umsetzen zu können.

K.W. Was bedeutet die Corona-Krise für Ihre Arbeit?

Durch das intensive Beisammen-Sein mit unseren Wunschgroßeltern vor der Corona-Phase konnten wir fast alle Vermittlungen durch die Pandemiezeit bewahren. Für die Wunschgroßeltern sind diese Familien eine Herzens-Angelegenheit geblieben, so dass sie ihre Familien besonders in diesen Krisenzeiten mit unterstützen möchten und das auch tun. Wir haben unsere Präsenz-Meetings zurückgenommen und ins Freie verlegt, sind aber gerade dadurch und mithilfe digitaler Mittel (z.B. Chat, Videokonferenzen) noch intensiver in die persönliche Begleitung gegangen. Für Aufnahme- und Vermittlungsgespräche fanden wir auch kreative Formen, z.B. auf Spielplätzen. Die Krise bestätigte unseren Arbeitsansatz: alle Vermittlungen sind weiter gegangen, es ist ein Ehrenamt, das den Menschen wirklich viel bedeutet und das sie gerade in Krisenzeiten gerne wahrnehmen. Ich denke einfach, dass die innerliche Nähe so überwiegt, dass man sagt, wir gehen dieses Risiko in verantwortlicher Weise eben ein. Der Kontakt zu den Kindern und zu den Familien ist für die Wunschgroßeltern so wesentlich, dass mit Unterstützung Lösungen gefunden werden: man testet sich bevor man zusammenkommt, geht nach draußen oder wählt die Unternehmungen einfach so, dass sie mit der Corona-Situation irgendwie vereinbar sind. Wir lernen ja gerade, dass besonders unsere Kinder unter der Corona Situation sehr gelitten haben, und so ist der Wert solcher Treffen auch von dieser Seite her enorm hoch, weil man einfach auch versucht hat, Normalität in den Alltag der Kinder zu bringen und Möglichkeiten zu bieten, die die Corona-Situation in den Hintergrund treten ließen und lassen.

K.W. Was wünschen Sie sich für den Verein für die Zukunft und welche Pläne haben Sie aktuell?

Obwohl wir die Präsenzmeetings zurücknehmen mussten, haben wir natürlich dennoch weiter geträumt, was wir uns für die Zukunft vorstellen können. Und so haben wir im Hintergrund zwei neue Projekte vorbereitet, mit denen wir hoffentlich dann ab April beginnen können. Da ist zuerst das Projekt Medienbegleitung: Es wird in sehr individuellem Zuschnitt mit dem Landesfilmdienst Thüringen gemeinsam organsierte Schulungen für Großeltern und Enkel geben, wie sie sich sicher und kreativ im Internet bewegen können. Aber auch für unsere Jüngsten werden wir ein gefördertes Projekt verwirklichen: wir werden regelmäßige Spielplatz-Treffen anbieten, um mit speziellen Materialien auch die Wunschgroßeltern bei der Begleitung der Kinder unterstützen zu können. Wir hoffen zudem, dass wir wieder in unser Schulprojekt einsteigen können, wo wir ausländische Kinder an einer Grundschule in Erfurt beim Deutschlernen unterstützen. Natürlich wünschen wir uns, bald wieder so in die Präsenzmeetings zu kommen, dass wir unsere derzeit 83 aktiven Wunschgroßeltern sowohl mit Fortbildungen als auch der Möglichkeit zur Vernetzung und zum Erfahrungstausch untereinander unterstützen können.

K.W. Ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch und wünsche dem Verein alles Gute für seine Projekte – und dass er sich weiter bei uns in der Andreasgemeinde wohlfühlt und gedeiht!